Der Schlaf der Gerechten. Erzählungen by Wolfgang Hilbig

Der Schlaf der Gerechten. Erzählungen by Wolfgang Hilbig

Autor:Wolfgang Hilbig [Hilbig, Wolfgang]
Die sprache: deu
Format: epub
ISBN: 9783104034409
Herausgeber: FISCHER E-Books
veröffentlicht: 2015-10-12T16:00:00+00:00


Der dunkle Mann

An das Telefonat, mit dem die Geschichte angefangen hatte, glaubte ich mich am besten zu erinnern. Die Stimme kam aus einer Gaststätte, abends gegen zehn Uhr, ich bemerkte die unverkennbaren Hintergrundgeräusche; Stimmengewirr, Gelächter, Gläserklirren. Ich war zu einem Telefongespräch nicht in der Stimmung, bei mir lief der Fernseher, während ich mit dem Packen meiner Reisetasche beschäftigt war, zudem hatte das Verhältnis zu meiner Frau, seit mehr als einer Woche schon, einen Tiefstand erreicht. Zuerst dachte ich, es habe sich jemand verwählt, ich hoffte es sogar.

Ich würde Sie gern sehen, erklärte die Stimme, wollen Sie nicht herkommen? – Es war eine tiefe Stimme, wenn auch nicht gerade eine Baßstimme, man hätte sie als wohlklingend bezeichnen können, wenn sie nicht mit einem so scheußlichen Dialekt gesprochen hätte, der durch das merkbare Bemühen um Hochdeutsch noch unangenehmer wirkte.

Wohin soll ich kommen … und wer will mich sehen?

In die Gaststätte »Zum Doktor«, die kennen Sie doch bestimmt. Ich warte auf Sie an der Theke.

Wer will mich sehen, habe ich gefragt. Und warum, mit wem habe ich es zu tun?

Er wollte es mir am Telefon nicht sagen: Kommen Sie, Sie werden alles noch früh genug erfahren, ein Stündchen, das reicht vielleicht schon …

Als ich schwieg, wurde er dringender: Ich muß Sie sehen, unbedingt … machen Sie schon, ich bitte Sie darum!

Aber ich muß nichts … was ist eigentlich los, worum geht es denn? – Mir fiel auf, daß er das Wort »treffen« vermied, daß er nur das Wort »sehen« gebrauchte; ich hatte das Gefühl, eine Art Ungeduld war in seiner Stimme, die nur um wenige Nuancen vom Befehlston entfernt war.

Können Sie mir nicht endlich sagen, worum es geht! Wenn Sie mir nicht sagen, mit wem ich es zu tun habe, was los ist, dann komme ich nicht!

Schade … sehr schade! Nichts ist los, ich möchte mit Ihnen ein Bier trinken oder zwei, ich lade Sie ein.

Ich trinke kein Bier, ich trinke überhaupt keinen Alkohol …

Ach! Da haben Sie sich aber sehr verändert, das war früher ganz anders …

Die Sache wurde lang und länger, es traten Pausen ein, in denen wir uns anschwiegen. – Sie wollen mir nicht sagen, wer Sie sind … worum es geht. – Ich spürte, daß meine Fragerei sinnlos war.

Wenn Sie mit mir ein Bier trinken, hier in der Gaststätte, dann sage ich es Ihnen.

Würde ich Sie denn erkennen? fragte ich.

Nein, das will ich nicht hoffen. – Er zögerte erneut; inzwischen trat ich von einem Fuß auf den anderen.

Es wird aber bestimmt interessant für Sie, fuhr er fort, sehr interessant. Sie sind doch dieser Schriftsteller?

Tun Sie nicht so, als ob Sie nicht genau wüßten, mit wem Sie es zu tun haben. Sagen Sie mir lieber, mit wem ich es zu tun habe …

Sie wollen mich nicht sehen! sagte er; es klang nicht besonders enttäuscht, es klang eher verächtlich.

Nein, ich kann nicht, ich habe keine Zeit. Ich muß morgen früh mit dem Flugzeug nach Dresden, und ich habe mich vorzubereiten.

Sie kommen wirklich nicht?

Nein, verdammt noch mal …

Dann tut es mir leid, sagte die Stimme, um noch einen Ton tiefer.



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